
Meine deutsche Großmutter Margret sagte einmal zu mir: „Du bist länger tot als lebendig.“ Als Kind erschien mir dieser Satz fast wie ein Rätsel, aber mit den Jahren wurde mir klar, welche Tiefe in diesen Worten liegt. Sie sind ein Aufruf, bewusst zu leben, das Geschenk der Zeit anzunehmen und es nicht zu verschwenden. Aber was bedeutet es wirklich, sein Leben zu leben? Für viele klingt dieser Gedanke wie ein Aufruf zur Maximierung: alles erleben, alles besitzen, das Leben bis zum Äußersten auskosten. Doch führt ein Leben im Exzess wirklich zu Erfüllung? Oder verlieren wir uns dabei in der Oberfläche, während die Tiefe, die Essenz des Lebens, unberührt bleibt?
„Leben“ kann man auf vielerlei Weise definieren. Für manche bedeutet es, sich selbst zu verwirklichen, für andere, Beziehungen zu pflegen oder Spuren zu hinterlassen. Doch eine Frage bleibt: Macht der ständige Druck, das „Beste“ aus dem Leben zu holen, uns wirklich glücklich? Ein gelungenes Leben ist mehr als nur das Aneinanderreihen spektakulärer Momente. Es ist auch der Alltag, die Stille, die Rückschläge und das Wachsen daran. Ein erfülltes Leben spiegelt sich nicht nur in Erfolg oder Abenteuer wider, sondern in der inneren Zufriedenheit, in der Erkenntnis, dass wir unseren Platz in der Welt gefunden haben. Die Einzigartigkeit unseres Lebens kann eine große Herausforderung sein. Der Gedanke, dass wir diese Chance nur einmal bekommen, kann schnell in Überforderung umschlagen: Bin ich gut genug? Mache ich genug aus meiner Zeit? Doch zugleich liegt darin auch ein unermessliches Geschenk. Unser Leben ist nicht perfekt, aber es ist authentisch. Und gerade diese Authentizität gibt uns die Freiheit, nicht immer nach Höherem, Schnellerem, Besserem streben zu müssen, sondern das zu genießen, was ist.
Für viele Menschen, auch für mich, bietet der Glaube eine Perspektive, die über das Diesseits hinausgeht. Wenn wir wissen, dass das Leben nicht alles ist, dass es eine tiefergehende Erfüllung gibt, die über unsere irdischen Erfahrungen hinausgeht, nimmt das Druck von unseren Schultern. Wir müssen nicht alles erleben, wir müssen nicht alles schaffen. Stattdessen dürfen wir vertrauen, dass unser Wert nicht von unserer Leistung abhängt, sondern von dem, was wir sind – geliebt, einzigartig und getragen. Meine liebe Großmutter hatte recht: Wir sind länger tot als lebendig. Doch genau deshalb sollten wir unser Leben nicht nur in seiner Kürze sehen, sondern in seiner Tiefe. Ein Leben, das gelingt, ist kein Wettlauf gegen die Zeit, sondern ein bewusster Tanz mit ihr. Vielleicht bedeutet es am Ende, dass wir den Moment annehmen, wie er ist – mit allen Herausforderungen, Freuden und Schmerzen. Und dass wir darauf vertrauen, dass unser Leben nicht allein an uns hängt, sondern eingebettet ist in etwas Größeres, in Gott und seine Ewigkeit.
Lebe dein Leben – nicht, indem du alles suchst, sondern indem du es findest.
Dario Pizzano
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