Von Maßstäben und Wandel

Veröffentlicht am 16. Januar 2025 um 00:45

George Bernard Shaw trifft mit seinem Zitat eine Wahrheit, die uns alle betrifft: „Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt, ist mein Schneider. Er nimmt jedes Mal neu Maß, wenn er mich trifft, während alle anderen immer die alten Maßstäbe anlegen, in der Meinung, sie passten auch heute noch.“

Wie oft begegnen wir Menschen, die uns mit den Augen der Vergangenheit betrachten? Sie messen uns an alten Vorstellungen, an einem Bild, das vielleicht einmal gepasst hat, aber längst nicht mehr der Mensch ist, der wir heute sind. Diese alten Maßstäbe sind bequem – für andere. Sie ersparen es, uns neu zu sehen. Doch Menschen sind keine statischen Wesen. Wir wachsen, verändern uns, erleben Neues. Das Leben selbst formt uns, jeden Tag aufs Neue. Wie oft, frage ich mich, mache ich das selbst? Wie oft sehe ich andere durch die Linse von „damals“ – mit Vorstellungen, die längst überholt sind? Und wie oft messe ich mich selbst an Maßstäben, die nicht mehr zu mir passen? Alte Urteile, Erwartungen und Rollen haften uns an wie ein zu eng gewordenes Kleid, das wir trotzdem weitertragen. Shaws Schneider erinnert uns daran, wie wichtig es ist, neu Maß zu nehmen – nicht nur bei anderen, sondern auch bei uns selbst. Jeder Mensch verdient es, im Licht des Augenblicks gesehen zu werden. Genau hier liegt die Essenz: wahre Begegnung bedeutet, nicht die Vergangenheit anzulegen, sondern im Heute präsent zu sein. Es bedeutet, aufmerksam zu sein, zu fragen: Wer bist du jetzt? Wer bin ich jetzt? Das braucht Mut. Denn alte Maßstäbe loszulassen heißt, sich auf das Unbekannte einzulassen – auf den Menschen, der gerade vor uns steht, und auf den, zu dem wir selbst geworden sind. Doch genau hier liegt die Chance: im Mitwachsen. Shaws Bild ist einfach, aber tiefgreifend. Es zeigt uns, dass wir jeden Tag neu Maß nehmen können. Und das sollten wir auch. Denn das Leben selbst misst uns ständig neu. Warum sollten wir uns damit zufriedengeben, uns und andere an einem gestern zu messen, das nicht mehr existiert? Vielleicht liegt das Geheimnis wahrer Verbundenheit genau hier: in der Bereitschaft, immer wieder neu hinzuschauen – ohne Erwartungen, ohne Schablonen, ohne die alten Maßstäbe. Denn nur dann sehen wir wirklich. Und nur dann begegnen wir wirklich.

 

Dario Pizzano

Kommentar hinzufügen

Kommentare

Es gibt noch keine Kommentare.