Die Kunst des Fühlens

Veröffentlicht am 11. Dezember 2024 um 08:31

In einer Welt, die von Ratio und Vernunft beherrscht wird, haben wir verlernt, unseren Gefühlen Raum zu geben. Alles wird analysiert, kategorisiert, beurteilt. Gefühle scheinen oft nur noch wie Störgeräusche in einem System, das auf Effizienz und Logik optimiert ist. Doch was, wenn genau diese Gefühle das sind, was uns lebendig macht? Gestern erzählte mir mein bester Freund von seiner Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung. Diese Menschen, so schilderte er, leben ihre Emotionen unvermittelt und ungeschützt. Sie denken wenig – und fühlen viel. Sie weinen, wenn sie traurig sind, sie lachen aus tiefstem Herzen, wenn sie Freude empfinden. Sie verstecken ihre Gefühle nicht hinter Masken oder Argumenten. Und ist das nicht etwas Wunderbares?

Wir könnten so viel von ihnen lernen. Was würde passieren, wenn wir uns erlauben, mehr zu fühlen und weniger zu denken? Wenn wir die Kontrolle des Kopfes loslassen und dem Herzen wieder mehr Raum geben? Auch ich habe einmal Zeit in einer Klinik für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen verbracht. Dort begegnete ich Menschen, die nicht „verrückt“ waren, wie die Gesellschaft sie oft abstempelt, sondern Menschen, die ihre Gefühle so intensiv spürten, dass sie daran zerbrachen. Sie hatten Verletzungen und Schmerz erlebt, die sie nicht verdrängen konnten – oder wollten. Es waren Menschen, die ehrlich versucht hatten, ihre Gefühle zu leben, in einer Welt, die dazu drängt, Emotionen zu unterdrücken. Sind sie also wirklich die „Kranken“? Oder sind sie diejenigen, die mutig genug waren, die Maske der Kontrolle fallen zu lassen und die Tiefe ihres Menschseins zuzulassen?

Viele belächeln diesen Ansatz. „Die Vernunft ist das Einzige, was zählt“, sagen sie. Doch ist das wirklich so? Vernunft mag unser Leben ordnen, aber sie gibt ihm keine Seele. Das Herz ist es, das uns verbindet – mit uns selbst und mit anderen. Stell dir vor, wie es wäre, wieder mit einem offenen Herzen zu leben. Die kleinen Momente des Lebens bewusst zu spüren: Die Wärme der Sonne auf der Haut. Das Kribbeln eines Lächelns. Die tiefe Ruhe eines stillen Abends. Der Kopf muss lernen loszulassen, damit die Seele wieder atmen kann und das Herz zur Ruhe kommt. Vielleicht ist das die größte Herausforderung unserer Zeit – und gleichzeitig die tiefste Heilung.

 

Dario Pizzano

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