
Die Sehnsucht nach Unsichtbarkeit
Als Kinder hatten wir oft den Wunsch, unsichtbar zu sein. Vielleicht lag es daran, dass die Welt der Erwachsenen uns manchmal zu laut, zu kompliziert oder schlichtweg zu fremd erschien. Während die Großen diskutierten, entschieden oder sich sorgten, zog es uns in die Welt der eigenen Fantasie. Ein Ort, an dem wir sicher waren, wo wir Träume spinnen und Abenteuer erleben konnten, ohne gestört zu werden. Unsichtbarkeit bedeutete Freiheit, ein unsichtbarer Schutzschild vor den Anforderungen und Erwartungen anderer.
Heute, als Erwachsene, ertappen wir uns manchmal wieder bei dieser Sehnsucht. Die Welt hat sich gewandelt, sie ist schneller, digitaler, allgegenwärtiger geworden. Sichtbarkeit ist das Gebot der Stunde: in sozialen Medien, im Beruf, im gesellschaftlichen Leben. Wir sollen präsent sein, erreichbar, performant. Doch diese permanente Sichtbarkeit kann erdrücken. Der Wunsch nach Unsichtbarkeit kehrt zurück, aber er hat sich verändert. Es geht nicht mehr darum, sich vor dem Streit der Erwachsenen zu verstecken. Es geht darum, der Flut aus Meinungen, Erwartungen und Urteilen zu entkommen. Unsichtbar sein heißt, kurz aus der Rolle zu treten, die andere von uns erwarten. Es heißt, sich dem Druck zu entziehen, immer ein Gesicht zu zeigen, das gemocht, kommentiert oder bewertet wird.
Unsichtbarkeit wäre ein Geschenk in einer Welt, die ständig hinschaut. Sie würde uns erlauben, die eigenen Gedanken zu hören, nicht die der anderen. Sie würde uns die Freiheit geben, ohne das Urteil über jede unserer Entscheidungen zu sein. Vielleicht wäre sie ein Moment der Rückbesinnung auf das Kind in uns, das sich nach Einfachheit und Ruhe sehnt. Doch vielleicht müssen wir lernen, dass Unsichtbarkeit nicht nur in einem magischen Mantel oder einem geheimen Versteck liegt. Sie liegt in der bewussten Entscheidung, ab und zu aus der Sichtbarkeit auszutreten. Ein ausgeschaltetes Handy, ein Spaziergang allein im Wald, eine Stunde ohne Bildschirm – es sind die kleinen Fluchten, die unsichtbar machen. Nicht vor der Welt, sondern vor den ständigen Erwartungen, die wir selbst oder andere an uns stellen.
Unsichtbarkeit ist keine Schwäche. Sie ist ein Zeichen von Stärke, von Selbstfürsorge. Denn nur wenn wir uns erlauben, uns für einen Moment unsichtbar zu machen, können wir wirklich sichtbar bleiben – für die Dinge, die uns wichtig sind.
Dario Pizzano
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