Das Rotbäckchen Prinzip

Veröffentlicht am 20. Mai 2025 um 15:58

Das Rotbäckchen Prinzip

„Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig.“ – Antoine de Saint-Exupéry

 

Manche Rituale sind so klein, dass man sie fast übersehen könnte. Und gerade deshalb sind sie groß. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen: Meine Großmutter stand in ihrer kleinen Küche, mit diesem warmen Blick, der etwas Geheimnisvolles versprach. Sie winkte mich heran, ganz leise, fast verschwörerisch. „Komm“, sagte sie dann, „jetzt trinken wir erst mal einen Schnaps.“ Sie öffnete eine kleine Klappe im Schrank, zog eine schwere Flasche hervor – Rotbäckchen – und stellte zwei winzige Gläser auf den Tisch. Es war kein echter Schnaps, natürlich nicht. Aber für mich fühlte es sich so an. Wie ein ganz besonderes Erwachsenen-Ding, das ich mit ihr teilen durfte. Es war unser Moment. Nur wir zwei. Und es schmeckte nach etwas, das ich erst viel später verstehen sollte: Es schmeckte nach purer Liebe.

 

Ich wusste damals nicht, dass dieses Ritual schon viel älter war als ich. Dass meine Urgroßmutter es ihrer Tochter weitergegeben hatte, und diese wieder meiner Mutter. Vielleicht haben sie dabei auch gelächelt. Vielleicht haben auch sie diesen Moment bewusst festgehalten. Vielleicht war es einfach immer da, dieses Rotbäckchen-Prinzip. Heute, viele Jahrzehnte später, sind sie nicht mehr hier auf Erden. Aber sie sind nicht fort. Sie sind bei Gott, im Himmel – und sie sind da, in diesen kleinen Gesten, in diesem Ritual, das geblieben ist. Und manchmal, wenn ich mit meinen beiden kleinen Söhnen morgens in der Küche stehe, bevor der eine in die Schule und der andere in den Kindergarten geht, dann ist es, als wäre sie plötzlich wieder ganz da – meine Großmutter. Mit ihrem Lächeln. Ihrer Stimme. Ihrer Wärme.

 

Ich sage dann: „Jetzt trinken wir erstmal einen Schnaps.“ Und wir stoßen an. Zwei kleine Gläser. Zwei kleine Jungen. Und eine alte Liebe, die weiterlebt. Oft lachen sie dabei. Manchmal holen sie schon selbst die Gläser aus dem Schrank, noch bevor ich etwas sage. Es ist dieses verschmitzte, erwartungsvolle Lächeln, das mich jedes Mal tief berührt. Für einen Moment scheint alles ganz leicht – voller Freude, Geborgenheit, Verbundenheit. Denn Rituale sind mehr als Wiederholung. Wenn sie von Liebe getragen sind, öffnen sie Räume, in denen Zeit keine Rolle spielt. Sie machen sichtbar, was bleibt: Nähe, Wärme, Heimat. Und vielleicht ist genau das ihre tiefste Kraft.

 

Dario Pizzano

 

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